2009
Eine „Überlebens"- Geschichte, so unglaublich, wie sie nur das Leben selbst schreiben kann....
Sie sind Abschaum der Gesellschaft, zerrissen und zerlumpt, manche gewalttätig, stinkend, oft mit eiternden Wunden oder Schwären übersät, sie sind abstoßend und furchteinflößend, sie können die Worte "Missbrauch, Gewalt, Demütigung, Vergewaltigung" weder lesen noch schreiben, aber sie wissen mehr als jeder andere, mehr als viele Erwachsene, was diese Worte bedeuten. Es sind erlebte Worte, entwürdigend, Worte voller Schmerz - physisch wie psychisch und manche von ihnen sind nicht älter als zehn Jahre.
Geschundene Kinderseelen- chancenlos gegen das Leben. In Abfallhalden und Müllbergen suchen sie nach Eßbarem, streunende Hunde, streunende Kinder. Gibt es einen Unterschied? Es gibt keinen!
Die Kinder und Jugendlichen spüren instinktiv, dass er ihnen helfen kann,- er ist keiner von ihnen, er ist ein Freiwilliger aus der Schweiz, sein Name ist Stefan Gurtner, ein angehender Literaturstudent, er ist ein Weißer und trotzdem setzen sie all ihre Hoffnungen in ihn.
Und so „überreden" sie ihn, ihnen zu helfen.
Mittellos, ohne die geringste Erfahrung oder Ausbildung, in einem fremden Land, das politisch und gesellschaftlich zerrissen ist, in dem kriegsähnliche Zustände herrschen, beginnt er unter für uns Mitteleuropäer unvorstellbaren Umständen einen Kampf für diese Kinder, der nie enden soll. Er tauscht ein Literaturstudium und eine sichere Zukunft gegen immerwährende Ungewissheit und Anfeindungen von allen Seiten ein. Eine schier aussichtslose Idee, deren Scheitern von vorneherein festzustehen scheint.
Nicht jedoch für Stefan Gurtner. Mithilfe der Unterstützung von einer Handvoll Menschen, deren Keimzelle in einer Pfarrei in Mannheim sowie bei seiner Familie und den Freunden in der Schweiz liegt, gründet er eine Wohngemeinschaft, die heute den Namen Tres Soles trägt.
Aus dieser Wohngemeinschaft heraus bildet sich „Ojo Morado", eine Theatergruppe. Sie ist Teil seines alternativen Erziehungskonzeptes. Gemeinsam werden sozialkritische Theaterstücke geschrieben und aufgeführt, die von Seiten der Mächtigen missbilligt werden und Drohungen mit Ausweisung gegenüber dem „verhassten Ausländer" zur Folge haben. Nicht zuletzt bringt seine Arbeit Stefan Gurtner kurzzeitig ins Gefängnis.
Seine bolivianische Frau Guisela, Mitbegründerin und engagierte Mitstreiterin, muss immer wieder intervenieren, wenn die Existenz von Tres Soles auf dem Prüfstand steht.
Zweimal bereits schien das Projekt wegen fehlender Geldmittel am Ende zu sein. Geldmittel, die lächerlich gering sind im Vergleich zu Summen, die von großen Organisationen und in der Entwicklungshilfe ausgegeben werden als vermeintlich sinnvolle Unterstützung oder Anschaffung -und die wirkungslos versickern.
Wie wir heute rückblickend sagen können, war die damalige Entscheidung der Kinder, Stefan Gurtner „festzuhalten", eine Sternstunde für all jene Kinder, die Heimat und Geborgenheit bei Tres Soles fanden und finden.
Menschenwürde zurückzuerlangen, der viel diskutierten Opfer-/Täterrolle zu entkommen, die Fähigkeiten zu entwickeln, eigene Probleme lösen zu können, kritisch zu denken und zu hinterfragen - es ist keine Frage, dass dies von größter Bedeutung für den Aufbau eines Lebensprojektes ist.
Aber funktionieren kann es letztendlich nur, wenn diese unbestreitbar wichtigen Ziele eingebettet werden in die Realität, in die Realität Boliviens und der dort herrschenden politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Nur dann ist eine solche Arbeit nicht zum Scheitern verurteilt. Und das ist Stefan Gurtner mit seiner Frau Guisela und seinen Mitarbeitern vorbildlich gelungen!
Es ist eine Geschichte „wie aus einem Buch" - tatsächlich ist sie zu lesen in einem Buch- in dem Buch „Die Straßenkinder von Tres Soles" - spannend, anrührend, berührend und - hierbei kann ich nur für mich selbst sprechen - überaus lehrsam und heilsam!
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH TRES SOLES!
Sabine Jorkowski
Der Projektgründer und -betreuer Stefan Gurtner berichtet über seine 20-jährige Arbeit:
Als wir am 1. Februar 1989 - also vor zwanzig Jahren! - mit einer Gruppe von Straßenkindern die Armenküche verlassen mussten, hatten wir, außer etwas geliehenem Geld für die ersten Mieten für ein halb zerfallenes Haus in einem Elendsviertel von El Alto, nichts. An jenem Tag schneite es, es herrschte ein bittere Kälte und die Fenster hatten keine Scheiben.
Guisela, meine heutige Ehefrau, und ich hatten vorher anderthalb Jahre als Freiwillige in einer Armenküche gearbeitet, die von der katholischen Kirche finanziert wurde, und hatten dort eine Gruppe von Straßenkindern betreut. Leider war diese Armenküche für diese Arbeit nicht eingerichtet und die Kinder waren vermischt mit erwachsenen Alkoholikern und Drogensüchtigen. Am Ende hatten wir nur noch die Alternative, entweder die Kinder dem Jugendamt zu übergeben oder eine von der Armenküche unabhängige Wohngemeinschaft zu gründen. Da wir wussten, dass die Behandlung in den staatlichen Erziehungsheimen sehr unmenschlich war, entschieden wir uns für die zweite Variante. Es war wie ein Sprung ins kalte Wasser oder wie das Balancieren am Rande eines „schwarzen Lochs", wie ich den Moment später in meinem Buch „Die Straßenkinder von Tres Soles" beschrieb.
Eine meiner Aufgaben in der Armenküche hatte darin bestanden, die Korrespondenz des Pfarrers mit den Spendern in Deutschland, insbesondere mit der katholischen Kirchengemeinde St. Konrad in Mannheim, zu übersetzen In einem Brief verabschiedete ich mich von ihnen und erklärte ihnen unsere Beweggründe für den Wegzug.
Die erste Zeit in El Alto war sehr schwierig, meine Ersparnisse und eine Spende von meiner Familie in der Schweiz waren schnell aufgebraucht. Hilfsorganisationen, die wir angeschrieben hatten, lehnten eine Unterstützung ab mit der Begründung, dass wir zu „klein" seien, dass kein „Arbeitsplan" und kein „Budget" vorhanden seien oder dass keine „Fachleute" mitarbeiten würden. Als wir schon aufgeben wollten, geschah ein Wunder. Ich weiß, wir sind vernünftige und intelligente Menschen, aber es geschah tatsächlich ein Wunder. Ein Wunder, das uns ermöglichen sollte, die Arbeit zwanzig Jahre bis zum heutigen Tag fortzuführen und uns hoffentlich erlaubt, noch viele hinzu- zufügen. Ein Wunder, das vielen Straßenkindern ermöglichen sollte, ein würdiges Leben zu führen, in die Schule zu gehen und einen Beruf zu erlernen. Ein Wunder, das mir den Glauben an Gott zurückgab. Das Wunder kam in Form eines Briefs. Damals schrieb man sich noch Briefe, die in einem Umschlag und beklebt mit hübschen Briefmarken über die Post verschickt wurden und oftmals mehrere Wochen oder sogar Monate unterwegs waren. Manchmal gingen sie auch verloren. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn genau dieser Brief verloren gegangen wäre. Wenn er irgendwo in einem Verteilungszentrum in einen falschen Sack geraten wäre. In ein falsches Flugzeug getragen worden wäre. Herausgerutscht und auf dem Boden liegengeblieben wäre. Vom Regen aufgeweicht und unleserlich gemacht. Von einem Kehrer aufgewischt und in eine Mülltonne geworfen oder gar verbrannt worden wäre. Vielleicht hätte er die hübschen Briefmarken vorher abgelöst und sie seinen Kindern geschenkt, irgendwo in Madrid, Sao Paulo oder Lima. So ist es damals vielen Briefen ergangen.
Der Brief, von dem ich heute erzähle, ist zum Glück angekommen, in einem kleinen Postfach in der bolivianischen Hauptstadt La Paz. Die Post befand sich zu jener Zeit in einem engen Haus aus der Kolonialzeit, dessen Innenhof notdürftig überdacht worden war und wo die Schalterhalle funktionierte. Ich drängte und quetschte mich durch die Menschenmenge, öffnete das Postfach und nahm den Brief heraus mit einer traumhaften Sicherheit. Es war der einzige. Er hätte ja auch mit anderen Briefen ankommen und zwischen ihnen herausfallen können, ohne dass ich etwas bemerkt hätte. Als Absender stand: Ingeborg und Hans-Georg Kowalski, Kirchengemeinde St. Konrad, Mannheim, Deutschland. Ich steckte also den Brief in meine Tasche und ging in ein nahes Café.
Ich will jetzt nicht auch noch beschreiben, was auf dem Weg alles hätte passieren können. Ich setzte mich an einen Tisch. Ich wollte den Brief im Sitzen lesen. Ich wartete auch bis der Kaffee - mit einem Schuss Milch, ich weiss es noch genau - vor mir stand und ich einen tiefen Schluck genommen hatte. Erst jetzt öffnete ich den Brief mit dem Stiel des Kaffeelöffels. Ich überflog ihn und einen Augenblick wollte mir schwarz vor den Augen werden. Es war gut, dass ich mich gesetzt hatte. Die Kirchengemeinde St. Konrad ließ mich wissen, dass sie meinen Brief bekommen und sich entschieden habe, das neue Projekt zu unterstützen. Obwohl oder gerade weil ich keine Unterstützung beantragt hatte. Obwohl oder gerade weil mich die Leute, selbst Pfarrer Bernhard Hermann, nicht persönlich kannten. Obwohl oder gerade weil unsere Wohngemeinschaft kein katholisches Projekt war. Obwohl oder gerade weil wir keinen Arbeitsplan und kein Budget hatten. Obwohl oder gerade weil die Arbeit mit den Straßenkindern sehr ungewiss und ein großes Risiko war. Wie ich später erfuhr, hatten vor allem bei Pfarrer Hermann menschliche Gründe den Ausschlag gegeben.
Als ich den Brief wieder in den Umschlag steckte, wusste ich, dass die Wohngemeinschaft eine Zukunft haben würde, was immer mit dem Brief jetzt auch geschehen würde (bei einem unserer späteren Umzüge ist er dann auch tatsächlich verloren gegangen). Bald darauf bekam ich von der Freundin eines Schweizer Diplomaten die Nachricht, dass sie die Miete des Hauses übernehmen würde. Sie heißt Monika Frehner und wohnt in St. Gallen. Sie, genau wie die Kirchengemeinde St. Konrad in Mannheim, unterstützen uns bis heute. Nie haben sie uns Bedingungen gestellt. Nie haben sie von uns verlangt, zu missionieren. Nie haben sie uns misstraut,- auch nicht, als ich im Gefängnis war. Am 1. Februar haben wir unser zwanzigjähriges Jubiläum gefeiert. Wir haben nur den hiesigen Pfarrer eingeladen, um im Hof von Tres Soles eine „Dankesmesse" zu halten. Sonst haben wir niemanden eingeladen, keine Persönlichkeiten, nicht einmal das Jugendamt. Unser einziger Dank gilt Gott und all den Menschen, die uns in den zwanzig Jahren unterstützt und das Wunder möglich gemacht haben.
Mit vielen herzlichen Grüssen Stefan
P.S. Dank unserer Freunde Stefan und Barbara Heumann und Silvan Greverus ist unsere Internetseite neu gestaltet worden, schaut doch mal rein (www. tres-soles.de). Stefan Heumann war übrigens gerade vierzehn Tage hier bei uns und hat eine Menge Fotos mitgenommen für die Aktualisierung des virtuellen Rundgangs. Auf der Internet-Seite sind übrigens auch schon die meisten Veranstaltungen meiner Lesereise (August-November) aufgelistet, außerdem erlaube ich mir, eine Kopie des Reiseplans als Anhang hinzuzufügen. Es würde mich sehr freuen, wenn wir uns irgendwo sehen würden.
BÜCHER, DIE VON MIR ZUM THEMA BOLIVIEN UND TRES SOLES ERSCHIENEN SIND:
Titel: Die Strassenkinder von Tres Soles - Über zerstörte Kindheiten, Selbstverwaltung und ein Theater der Unterdrückten in Bolivien, eine DVD inbegriffen, 300 Seiten.
Verlag: Edition AV ISBN-Nummer: 978-3-936049-79-4 Preis: 18.- Euro
Titel: Die Abenteuer des Soldaten Milchgesicht - Historischer Roman, 250 Seiten. Schildert die Eroberung des Inkareiches durch die Spanier und wie es zur heutigen Lage in Bolivien und den anderen Andenländern gekommen ist.
Verlag: Edition AV ISBN-Nummer: 3-936049-62-9 Preis: 14 Euro
Titel: Das grüne Weizenkorn - Eine Parabel aus Bolivien, 110 Seiten, mit zahlreichen Illustrationen von K.P.M. Wulff, für ältere Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene. Sie handelt von der Landflucht, die in Südamerika Millionen von Bauern in die großen Städte treibt in der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Verlag: Edition AV ISBN-Nummer: 3-936049-40-8 Preis: 11,80 Euro
Titel: Krumme Pfote - Eine Geschichte aus Bolivien, 106 Seiten, für ältere Kinder und Jugendliche, aber auch für Erwachsene. Ein Hund erzählt seine Geschichte und die von vier Straßenkindern in La Paz.
ISBN-Nummer: 3-8850-475-4 Verlag: Elefanten Press oder Beltz&Gelberg (Taschenbuch) Dieses Buch ist vergriffen, aber über Internet-Anbieter für gebrauchte Bücher erhältlich.
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